iStock.com/KeithBinns
Europa fragt sich: Wer bin ich?
L iebes Tagebuch!
Diese letzten zwei Jahre haben mich wirklich bedrückt. Millionen von Flüchtlingen strömten über meine Küsten und ließen sich an verschiedenen Orten nieder. Anfangs dachte ich, es wäre nicht so schlimm: Immerhin ist dies ein multikultureller Kontinent. Ich dachte, dass ich es schaffen würde. Aber etwas war anders. Sie waren anders; ich konnte es spüren. Aber was machte sie anders, oder was ist es, das mich von ihnen unterscheidet? Ich begann mich zu fragen: Wer und was bin ich?
Warum sind einige meiner Bürger so feindlich gegenüber den Flüchtlingen? Warum werden Populisten, die versprechen sie loszuwerden, immer mehr bewundert? Ich habe ihnen so viel gegeben, warum greifen sie mich manchmal trotzdem an? Warum gibt es überhaupt ein „sie“ und ein „ich“?
Als diese Millionen von Flüchtlingen erstmals auf diesen Kontinent strömten, sagte ich ihnen nachdrücklich, dass sie sich an die europäischen Werte und Kultur anpassen müssen. Das war schön gesagt, aber was bedeutet das aus praktischer Sicht? An welche Werte und an welche Kultur sollen sie sich anpassen?
Dieser Kontinent mit etwa 50 Ländern hat unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, Sprachen, Religionen, Kulturen, Gesetze, Wünsche, Träume und Ziele. Welche Werte sollen diese Flüchtlinge denn annehmen?
Ich musste feststellen, dass ich vergessen habe, wer ich bin. Ich habe vergessen, was meine Länder zusammenhält, und was mich von anderen Kontinenten unterscheidet. Als die Flüchtlingskrise begann, wollte jede Nation ihr eigenes Ding tun. Wie das berühmte Sprichwort sagt: „Jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, kann nicht bestehen.“ So können auch meine Nationen nicht bestehen, wenn sie so uneinig sind. Deshalb muss ich herausfinden, wer ich bin und wer meine Bürger sind; und auch nur dann kann ich den Flüchtlingen sagen, woran sie sich anpassen müssen. Ich muss herausfinden, was es ist, das Europa zusammenhält.
Ich dachte, dass ich vor etwa 60 Jahren eine Antwort auf diese Frage gefunden hätte: die Ökonomie. Wir alle wollen erfolgreich sein, und ich dachte, dass dieser gemeinsame Wunsch meine Nationen als einen Kontinent zusammenbringen würde. Ich dachte, dass diese Vision vor allem dazu führen würde, dass wir als ein Körper zusammenarbeiten könnten – ein Körper, der den großen Mächten des Westens und des Ostens entgegentreten kann. Ich glaubte wirklich, dass ich den Ehrgeiz gefunden hätte, der uns die Kraft und die Leidenschaft, den Eifer und die Hingabe geben würde, um alle Hindernisse zu überwinden, allen Gegnern zu widerstehen, alle Feinde zu überwältigen und uns zur Größe katapultieren!
Ich erkannte schnell, dass dies nichts als eine Illusion war.
Die Ökonomie gab uns nicht die erhoffte Einheit. Obwohl einige meiner Länder in den fünfziger und sechziger Jahren zusammenkamen, erkannte ich, dass wir immer noch zu viele Unterschiede hatten. Wir brauchten gemeinsame Gesetze. Die Europäische Gemeinschaft wurde gegründet, um diese Unterschiede zu überwinden. Diese entwickelte sich später zur Europäischen Union. Der Hauptsitz ist nun in Brüssel, Belgien. Aber der Kampf zwischen dem EU-Recht und den nationalen Parlamenten geht weiter. Meine Mitglieder können sich nicht auf die einfachsten Konditionen einigen. Sie sorgen sich mehr um sich selbst als um unsere gemeinsamen Ziele. Das zeigte sich in der Eurokrise und jetzt noch mehr in der Flüchtlingskrise.
Trotz all meiner Bemühungen, meine verschiedenen Mitglieder zu vereinen, höre ich oft Gemurmel, das sich gegen meine Einheitspläne richtet. Einige sagten, dass die EU ein kopfloses Frankenstein-Monster sei, ein Apparat, der seine Mitglieder überfordert und doch nicht in der Lage ist, Europa vor Katastrophen zu retten.
Aber ich wollte nicht auf sie hören. Die Vision, mein Volk zu vereinen, habe ich nicht aufgegeben. Ich war immer noch davon überzeugt, dass am Ende alles gut gehen würde. Ich hoffte, dass wir alle zusammenarbeiten würden, um unsere gemeinsamen Probleme zu lösen.
Aber dann machte die Flüchtlingskrise auch mir klar, dass ich mehr sein muss als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Ich musste etwas finden, das uns trotz aller Opposition zusammenhält. Somit beobachtete ich ganz genau, wie meine Mitglieder auf die Krise reagieren würden.
Eines meiner stärksten Mitglieder, Deutschland, begann seine Grenzen zu öffnen. Es nahm die Herausforderung an, Hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen in der Hoffnung, dass die umliegenden Nationen zusammenarbeiten und dasselbe tun würden. Das ist nicht geschehen. Andere Nationen weigerten sich unverhohlen, eine bestimmte Quote von Flüchtlingen aufzunehmen. Einige sagten: Wir helfen, aber sie müssen sich integrieren. Andere lehnten einfach ab.
Ich sah keine Möglichkeit eine Übereinstimmung zu finden. Darum wandte ich meinen Blick auf die Bürger der einzelnen Länder, in der Hoffnung, dort eine einheitliche Reaktion zu finden.
Meine Mitglieder suchten nach Möglichkeiten, die Flüchtlinge unseren Völkern anzugleichen. Verschiedene Formen einer Integrationspolitik wurden entwickelt. Einige hatten zum Teil Erfolg, aber die meisten scheiterten.
Statt friedlicher Integration und Zusammenarbeit sah ich, wie viele Flüchtlingshäuser in Brand gesteckt wurden. Die Migranten wurden verachtet, gehasst, bloßgestellt und verspottet für das, was sie sind und woher sie kamen. Einige hassten sie einfach für ihre Religion. Wenn sie doch nur den Islam aufgeben würden, könnten sie mit uns leben, argumentierten sie. Populisten, die versprachen Ausländer als Ausländer zu behandeln, gewannen an Popularität.
Terroranschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland eskalierten die Situation. Darüber hinaus wurden in der Silvesternacht in Köln Hunderte von Frauen sexuell angegriffen und einige sogar vergewaltigt.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 28. Juli über die bayerische Reaktion auf die Angriffe in ihrer Heimat:
„Eine dunkle Wolke aus Angst, Wut und Verbitterung hat sich über Bayern geschoben. Man muss sich nicht erst durchs Internet klicken, um einen Eindruck von der Stimmung zu bekommen. Es sind die eher beiläufigen Gespräche beim Bäcker und auf der Straße, in denen der Hass aufblitzt auf Flüchtlinge, Schwarze und die Politik ganz allgemein.“
Der Tagesspiegel sagte folgendes über die neue CSU Agenda: „Die Ablehnung nicht nur des Islamismus, sondern auch des Islams sowie das Beschwören der christlichen Kultur stechen hervor.“ Die CSU verweist auf deutliche Unterschiede zwischen den Flüchtlingen und mir. Sie sind islamisch und ich bin christlich. Daher bevorzugt die CSU alle Einwanderer, die diese christliche Kultur teilen.
Ist das die Antwort auf meine Frage? Sind alle meine Mitglieder fähig, sich mit dieser christlichen Kultur zu identifizieren? Ist das die Antwort auf die Frage: Wer und was bin ich?
Der Karlspreis
Das erinnert mich an einen Preis, der jedes Jahr vergeben wird, um der großen Taten zu gedenken, die Karl der Große für Europa tat. Er war der Erste, der ganz Europa unter einer Führung vereinte – ein Traum, den ich noch heute habe. Karl der Große hatte sogar größere Herausforderungen zu bewältigen als wir, und trotzdem brachte er Einheit. Wie er das schaffte ist bemerkenswert, und ich glaube, dass ich daraus lernen kann.
Die Flüchtlingskrise scheint die ideale Krise zu sein, um mich aufzurütteln und mir meine Schwächen zu zeigen. Indem mir vor Augen geführt wird, was ich nicht bin, beginne ich zu erkennen, wer ich bin.
Karl der Große hat seinen Teil dazu beigetragen, die christliche Identität Europas zu bekräftigen. Er versuchte, jede Nation die er eroberte, zum Katholizismus zu bekehren. Auf diese Weise konnte er sicher sein, dass sie dem Heiligen Römischen Reich, welches er zu etablieren trachtete, treu bleiben würden.
Obwohl es noch verschiedene Bevölkerungsgruppen und Nationalitäten geben würde, gab es eine Identität: das Christentum. Alles andere zählte als Feind. Das ist es, was meine Länder einst vereinte und uns auch heute wieder vereinen kann.
Aber muss ich den Flüchtlingen dann sagen, dass, wenn sie hier leben wollen, sie sich auch zum Christentum bekehren müssen? Was ist mit den Millionen anderer Muslime und religiöser Organisationen, die bereits hier leben? Müssen auch sie sich bekehren? Und was kommt als nächstes? Werde ich dann versuchen die ganze Welt zu bekehren, in der Hoffnung, sie zu einem besseren Ort zu verwandeln?
Schließlich bin ich Europa. Ich hatte vielleicht eine vorübergehende Identitätskrise, aber ich beginne mich zu erinnern, wer ich bin.
Um mehr über die verlorene Identität Europas zu erfahren, lesen Sie „Eine tödliche, geheime Verschwörung wurde aufgedeckt“. ▪