EMMANUEL DUNAND/AFP/Getty Images
Großbritannien teilt Europa offiziell mit: Lasst uns das Spiel beginnen!
Beachten Sie diese Aussage, die im Januar 1973 niedergeschrieben wurde, dem Monat, in dem Großbritannien der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitrat:
Großbritannien wird noch auf diesen Montag, den 1. Januar 1973 zurückblicken … wie auf ein äußerst tragisches historisches Datum … ein Datum voller verhängnisvoller Möglichkeiten!
Diese Bemerkung, die Herbert Armstrong vor 44 Jahren machte, war niemals vorherwissender als am letzten Mittwoch, den 29. März. Um 12 Uhr 30 mittags ließ die britische Premierministerin Theresa May dem Präsidenten des Europarats Donald Tusk einen Brief zustellen, in dem sie der EU offiziell mitteilte, dass Großbritannien aus der EU austreten würde. Jetzt läuft die Uhr und Großbritannien hat noch zwei Jahre Zeit, den Austritt zu verhandeln.
Der Mittwoch war ein historischer Tag für Großbritannien und die EU. Aber vielleicht sogar auch für den Rest der Welt. In zwei Jahren werden Großbritannien und Europa ganz anders aussehen, sich anders anhören und sich anders verhalten als heute. Wie wird Europa in zwei Jahren wohl aussehen? In welchem Zustand wird sich Großbritannien dann befinden? Es ist einfach unmöglich, das jetzt schon genau zu wissen. Ebenso unmöglich ist es, genau vorherzusagen, wie diese Verhandlungen ausgehen werden. Außer Grönland im Jahre 1984 ist noch nie ein Land aus der EU ausgetreten. Aber ohne den Grönländern zu nahe treten zu wollen: Grönland war nicht annähernd so wichtig für die Identität und das Funktionieren der EU wie Großbritannien es heute ist.
Eines ist sicher. Großbritanniens Auszug aus der EU ist „voll von verhängnisvollen Möglichkeiten“.
Nach der Ankündigung vom Mittwoch tauschten Richard Palmer und ich E-Mails aus – über den Brexit und besonders über einige Aspekte des Brexits, die, wie wir glauben, interessant zu beobachten sein werden. Uns beiden fielen dazu sieben „verhängnisvolle Möglichkeiten“ ein.
Richard Palmer: Ich bin erst mal neugierig, welche Auswirkungen die Brexit-Verhandlungen auf die britische Politik haben werden.
Die Ansichten über den Brexit in Großbritannien sind geteilt. Fast die Hälfte der Leute stimmte dafür, in der EU zu bleiben; nur wenig mehr als die Hälfte stimmte für den Austritt. Der Brexit hat praktisch alle politischen Parteien Großbritanniens gespalten. Die Konservativen sind schon seit Jahrzehnten uneins darüber. Die Labour-Partei ist traditionell für Europa – ihre neuen Anführer stehen Europa aber sehr viel skeptischer gegenüber. Derweil sind sich auch die „Brexiter“ durchaus nicht einig, was wohl als nächstes kommen wird. Einige sind für den freien Handel – sie mochten die EU nicht, weil sie ihnen zu protektionistisch war. Andere sind gegen den freien Handel. Einige wollen mehr Einwanderer, für andere ist die Einwanderung der Hauptgrund für den Austritt aus der EU. Sogar die UKIP, die Partei für die Unabhängigkeit des Vereinten Königreichs, beginnt unter diesem Druck zu zerbrechen und sich zu spalten. Diese Woche hat dann auch noch der einzige Parlamentsabgeordnete der UKIP die Partei verlassen.
Brad Mcdonald: Im Anschluss daran bin ich gespannt, welche Auswirkungen die Brexit-Verhandlungen auf die Beziehung der britischen Öffentlichkeit zu ihrer Regierung haben könnten.
Dreiundsiebzig Prozent der britischen Parlamentsabgeordneten wollten, dass Großbritannien in der EU bleibt. Das Oberhaus war entsetzt über den Ausgang des Volksentscheids, aus der EU auszutreten. Mehr als 70% der führenden Geschäftsleute des Landes hatten das Gefühl, dass es für Großbritannien besser wäre, in der EU zu bleiben. Um es auf den Punkt zu bringen: Die britische Elite wollte nie die EU verlassen. Aber die Arbeiterklasse Großbritanniens, die Bauarbeiter und die Bäcker, die Krankenschwestern und die Lehrer wohl. Was wird passieren, wenn die Elite die Verhandlungen nicht so führt, wie es die Öffentlichkeit will? Was wenn die Elite die Sache verschleppt und im Kleingedruckten an der EU festhält? Was wird passieren, wenn Theresa May schlechte Bedingungen für Großbritannien aushandelt?
So wie in vielen anderen westlichen Ländern gibt es auch in Großbritannien ein lautstarkes und wachsendes Kontingent von Leuten, die die Elite, die Politiker und die etablierte Politik nicht mögen. Wenn Frau May und ihre Mannschaft keinen Erfolg haben, könnte sich diese Ablehnung der Regierung noch verstärken.
RP: Es würde mich auch interessieren, welche Auswirkungen das auf den Zusammenhalt der vier Volksgruppen des Vereinten Königreichs haben wird.
Der Brexit wird sich unterschiedlich auf die vier Staaten des Königreichs auswirken – die vier Volksgruppen haben bei diesem Thema durchaus nicht dieselben Ansichten. Schottland will die EU nicht verlassen und benutzt den Brexit als Ausrede für ein neuerliches Referendum über seine Unabhängigkeit. Die Waliser fühlen sich schon jetzt aus dem Prozess ausgeschlossen. Nordirland jedoch ist wahrscheinlich noch am meisten betroffen, und zwar wegen der schwierigen Beziehungen zu Irland und der allgegenwärtigen Androhung von Gewalt. Wird Theresa May verhindern können, dass das Vereinte Königreich zerfällt?
BM: Werden die Verhandlungen und vielleicht sogar die allgemeinen Beziehungen der EU mit Großbritannien von Rachegefühlen bestimmt werden?
Wenn man die britischen Experten so reden hört, habe ich den Eindruck, dass viele glauben, es würde schon alles glatt und einfach über die Bühne gehen. Man hört oft: „Großbritannien wird dieses und jenes tun“ und „Großbritannien wird dieses und jenes nicht tun“. Manche Leute vergessen anscheinend, dass da ja auch noch die andere Seite am Verhandlungstisch sitzt und dass die EU nicht machtlos ist. Die EU wird bei den Verhandlungen ihre Interessen schützen und fördern wollen. Sie hat Ziele, die sie erreichen will. Ich sehe nicht, dass die EU so leicht auf alle Forderungen Großbritanniens eingehen wird. Man muss sich vor Augen halten, dass die restlichen 27 Mitgliedsländer der EU alle mit dem Ergebnis der Verhandlungen Brüssels mit Großbritannien einverstanden sein müssen.
Letztendlich hat die EU kein Interesse daran, Großbritannien fantastisch günstige Bedingungen für den Austritt zu bieten. Man darf den anderen EU Ländern nicht glauben machen, dass sie, wenn sie die EU verlassen, ein großartiges Leben erwartet. Viele von ihnen erleben gerade ein wachsendes Gefühl der Ablehnung der EU. Letzten Endes sind es zwei entgegengesetzte Kräfte mit rivalisierenden Interessen und es wird interessant sein zu beobachten, wie weit die Beziehungen nachher von Wettstreit und Rachsucht bestimmt werden.
RP: Eine der offensichtlichsten Fragen wird sein, was für wirtschaftliche und finanzielle Folgen das für Großbritannien am Ende haben wird?
Vor der Abstimmung hatten die Befürworter der EU schon vor einem sofortigen finanziellen Zusammenbruch gewarnt, wenn die Briten für den Austritt stimmten. Das ist nicht passiert, aber das heißt nicht, dass diese Gefahr nicht mehr besteht. Finanzdienstleistungen machen mehr als 10 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung aus, die sich hauptsächlich in London konzentrieren. Und das treibt wirklich die britische Exportindustrie an. Europa war lange Zeit neidisch auf den Erfolg der Briten auf diesem Gebiet und wenn es den Brexit für einen Angriff darauf nutzt, wird das die britische Wirtschaft zugrunde richten. Außerdem bleibt da auch noch eine Fülle von offenen Fragen, was den Export angeht.
RP: Es würde mich auch interessieren, ob der Austritt der Briten den Zerfall der EU begünstigen wird.
Für viele Beobachter sieht es so aus, als wäre Europa gerade dabei zu zerfallen. Und ich muss sagen, dass es tatsächlich so aussieht. Der Euro – Europas ehrgeizigster Integrationsversuch – gerät von einer Krise in die nächste. Da ist die Flüchtlingskrise, die Probleme mit dem islamistischen Terrorismus, die Krise der Beziehungen zu Russland und die populistischen Parteien, die Europa in diesem wichtigen Wahljahr heimsuchen. Der Brexit verstärkt noch den Eindruck, als würde das europäische Projekt gerade ganz im Schlamm stecken bleiben. Bei den anderen Mitgliedsstaaten könnte das Verhalten der Briten dazu führen, dass auch sie ihre Rolle in der EU überdenken. Selbst die Regierungschefs, die für die EU sind, fragen sich allmählich: Wohin wird das noch führen? Wird der Brexit zu einer Reihe von weiteren Austritten aus der EU führen?
BM: Gute Frage, und das führt uns direkt zu etwas anderem: Ich kann nicht umhin, mich zu fragen: Wird Deutschland den Brexit wohl dazu nutzen, die EU in ein deutsches Bauwerk umzugestalten?
Das ist ein historischer Moment für die EU. Und du hast schon recht; wenn man die vielen Krisen bedenkt, mit denen es fertig werden muss, kann es leicht passieren, dass die EU zerfällt und völlig unbedeutend wird. Es könnte aber auch sein, dass sie genau diese existenzielle Krise braucht, um zu erkennen, wer sie wirklich ist. Die meisten europäischen Regierungen behaupten, sie wollten ein vereinigtes Europa. Der Brexit wird ihr Engagement für dieses Ziel auf die Probe stellen. Einige Leute werden dabei zweifellos als Ungläubige entlarvt werden. Andere könnten sich genötigt sehen, sich noch mehr anzustrengen, damit die Idee der europäischen Integration auch weiterhin funktioniert. Werden wir vielleicht sogar miterleben, dass die europäische Union enger zusammenrückt und dabei leistungsfähiger und beweglicher wird?
Das wäre ohne weiteres möglich. Einige europäische Regierungschefs sagen schon, dass das unbedingt nötig wäre. Deutschland wird der Schlüssel zu all dem sein. Die unmittelbare Zukunft der EU wird von Deutschland abhängen und davon, was es vorhat. Wird Berlin wohl den Austritt Großbritanniens und die dadurch verursachte Existenzkrise dazu nutzen, die EU umzugestalten? Es ist kaum vorstellbar, dass Europa sich jetzt von der Idee des Zusammenschlusses abwendet. Seit dem zweiten Weltkrieg hat man ja sehr viel über die Vereinigung geredet und daran gearbeitet. Mir erscheint es nur logisch, dass Deutschland jetzt die Zügel in der sich auflösenden EU in die Hand nimmt und sie in eine von Deutschland entworfene, vereinigte Großmacht unter deutscher Führung umgestaltet.
Natürlich würde diese Idee bei all denen Alarm auslösen, die die Geschichte und die Prophetie der Bibel kennen. Aber ich glaube, es würde vielen Europäern gefallen, besonders den Nordeuropäern. Und es scheint unwahrscheinlich, dass Amerika, Großbritannien oder andere große Weltmächte, außer Russland vielleicht, etwas dagegen unternehmen würden, dass Deutschland die EU übernimmt und sie in eine effizientere, agilere und aggressivere Macht verwandelt.
Da haben wir’s! Viele Fragen und keine guten Antworten, jedenfalls nicht, wenn es um die konkreten Einzelheiten geht. Eines ist sicher: Herbert Armstrong hatte recht. Der 1. Januar 1973 war ein Tag der „mit verhängnisvollen Möglichkeiten beladen“ war, und in den nächsten zwei Jahren werden diese Möglichkeiten offenbar werden. ▪